neues projekt: die erziehung der regierenden klasse
Nachdem ich in kleineren Arbeiten (hier, und hier) die widersprüchliche Rolle des Schlagworts Demokratie im (in gewissem) westlichen Denken thematisiert habe, beginne ich dazu im September 2022 ein grösser angelegtes Projekt. Hierzu untenstehend der fast vollständige Projektbeschrieb.
Recherche „Die Erziehung der regierenden Klasse“
Zusammenfassung
Ausgehend von einem Materialarchiv bestehend aus Büchern der politisch-philosophischen Literatur, die zwischen 1925 und 1960 publiziert wurde, untersuche ich, wie für die regierende Schicht in dieser Zeit Demokratie verhandelt wurde. Dabei interessiert mich besonders die performte Identität der Autor:innen, dieser „Philosophen und Staatsmänner“, welche sich in Metaphorik, Begrifflichkeit, Affekten und Ästhetik äussert. Diese Untersuchung wird in ein performatives mediales Format, eine Video-Reihe, einfliessen.
Gegenstand der Recherche
Demokratie im elitären Diskurs–in der elitären Ästhetik– der 1930er bis 1960er Jahre
Wie gestaltete sich der Demokratie-Diskurs in der politischen Mitte der westlichen kulturellen Hegemonie der 1930er, 1940er und 1950er Jahre? In welcher Metaphorik, anhand welcher Begriffe und welcher visuellen Ästhetik artikuliert sich dieser Diskurs?
Mich interessieren ganz spezifisch die Beiträge der intellektuellen politischen Mitte, die meist ausgestattet mit Professuren für politische Philosophie oder Politikwissenschaft sich an ein breiteres, ausser-universitäres Publikum aus der regierenden Klasse (siehe dazu gleich mehr) wandte.
Meine Verwendung der Ausdrücke „Erziehung“ und „regierende Klasse“ ist eine Überspitzung komplexer Verhältnisse. Explizit adressieren die Autor:innen „aufgeklärte Bürger:innen“ („thinking laymen“). Aber durch Metaphorik, rhetorische Figuren, kulturelle Bezugnahmen, Sprach“Niveau“ und Buchästhetik weisen die Autor:innen deutlich auf die Distinktionsmerkmale der männlichen Mitglieder der westeuropäischen und nordamerikanischen weissen christlichen oberen Mittelschicht hin. In diesem Sinne verwende ich den Ausdruck „regierende Klasse“ für die anvisierten Leser:innen, die keineswegs eine homogene klar defnierte Gruppe bilden, aber durch Herkunft, Ausbildung, materiellen Besitz und verfügbare Zeit volles Wahlrecht nicht nur besitzen sondern auch ausüben können und aus deren Mitte die führenden Positionen der Gesellschaft besetzt werden. Andere gesellschaftliche Gruppen werden von den Autor:innen nicht nur nicht adressiert, sondern sind auch inhaltlich nur auf eine ganz allgemeine und abstrakte Weise überhaupt Thema ihrer Diskussion.
Die Autor:innen –die ebenfalls keine einheitliche Gruppe bilden und von einander insbesondere über die Sprachgrenzen hinweg kaum Notziz nehmen– partizipieren somit am Elite-Denken der regierenden Klasse, das gerade den Ausschluss gewisser Gruppierungen von der aktiven demokratischen Teilhabe affirmiert. Meine Hypothese ist, dass die Autor:innen in einem Spannungsfeld operieren, in welchem sie den implizit mitgetragenen Elitarismus mit dem Egalitären im Demokratigedanken zu vereinbaren haben. Dies führt zu aus meiner Sicht (und vielleicht der Sicht der meisten linken Intellektuellen heute) ganz merkwürdigen, schwer verständlichen, fremdartig erscheinenden, unüberzeugenden Bildern, Argumenten und Empfehlungen.
Dass ich mich gerade für die Zeitspanne zwischen 1930 und 1960 interessiere, hat folgenden Hauptgrund:
Die Beiträge sind vor oder während der Verwissenschaftlichung und Spezialisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften geschrieben worden und verstehen sich, wie erwähnt, als Beiträge an einen öffentlichen Diskurs. Sie operieren somit nicht innerhalb einer klaren Trennung von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Diskurs, enthalten kaum wissenschaftlichen Jargon, und die Autor:innen performen keine Identität als Wissenschaftler:in. Ihre Rolle als Teil und Erzieher der regierenden Klasse ist somit offensichtlicher, ihre Sprache gesellschaftlich und historisch stärker eingebettet, kulturell aufgeladener, als es eine wissenschaftliche wäre.
Auf der anderen Seite ist die argumentative Verteidigung der Demokratie ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal zu den faschistischen und sozialistischen Totalitarismen dieser Zeit und deshalb auch ein im Vergleich zu anderen Jahrzehnten viel diskutiertes Thema.
Meine Recherche nimmt historische Prozesse der Identitätsbildung der regierenden Schicht in den westlichen Demokratien ins Blickfeld. Dabei lege ich den Fokus spezifisch auf die Rolle der politisch-philosophischen Literatur- und Buchproduktion von 1925-1960. In dieser offenbart sich, so meine Hypothese, die Entwicklung eines Selbstverständnisses als notwendige gesellschaftliche Elite, die nicht mit dem egalitären Grundgedanken der Demokratie im Widerspruch stünde.
Warum diese Recherche gerade heute relevant ist. Was erhoffe ich mir davon?
Es scheint mir, dass heute die Unvollständigkeit der westlichen Demokratien, ihren Ausschlüssen der immigrierten Bevölkerung, der verminderten Teilhabe ärmerer Schichten, der zum Teil strukturell rassistischen Staatsorgane, u.ä. das Bewusstsein einer breiteren Gesellschaftsschicht erreicht hat. Wie die regierende Klasse mit diesen Ungleichheiten früher umgegangen ist, wie der Diskurs durch eine Kombination von philosophisch-politischer Rechtfertigung des Elitarismus’ und selektiver Nicht-Beachtung extremer Ungleichheiten ausgestaltet war, scheint mir deshalb gerade heute sehr untersuchungswürdig. Denn es ist fast undenkbar, dass Nachklänge dieses Diskurses nicht auch heute noch wirkmächtig sind –und er vielleicht nicht nur innerhalb tatsächlicher Eliten nachhallt, sondern auch in ganz anderen Schichten und populären Diskursen. Denn das charakteristische eines kulturell hegemonialen Diskurses ist ja gerade, dass er auch von Schichten adoptiert wird, die in der Hegemonie eher mit einem Machtverlust auskommen müssen. So kann ich mir gut vorstellen, dass der Boden für den Diskurs von „natürlichen Hierarchien“ heutiger Rechtspopulisten durch diesen alten Diskurs vorbereitet wurde. Meine Recherche kann somit als Vorarbeit für eine umfassendere Untersuchung der Kontinuität des Elitarismus’ in den westlichen Demokratien angesehen werden.
Meine Hoffnung ist insbesondere, dass indem ich veralteten Metaphern und Ästhetiken nachgehe – altmodischen Arten des Schreibens und merkwürdig erscheinenden begrifflichen Verbindungen – eine künstlerische (siehe dazu gleich mehr) Kulturanalyse betreiben kann. Ich hege sogar die Hoffnung, dass sich in diesen Kuriositäten einer der Schlüssel finden lässt, die ein tieferes Verständnis heutiger politischer Differenzen finden lässt. Dies wäre in einer Zeit der Polarisierung und zunehmender gegenseitigen Unverständlichkeit politischer Ausrichtungen wichtig. Meine Arbeitshypothese hier ist, dass durch eine vertiefte Untersuchung des Veralteten, die begrifflichen, ästhetischen und affektiven Mittel erweitert werden können um heutige politische Differenzen und Realitäten zu verstehen und Machtverhältnisse zu verhandeln. Denn was mir als veraltet erscheinen mag, mich aber als Kuriosität intrigiert, mag gar nicht so weit weg von heutigen konservativen Diskursen sein. Während ich zum Veralteten, zu vergangenen Elite-Identitäten (über diese Recherche) einen persönlichen und performativen Bezug aufbauen kann, ist für mich kein performativer Umgang mit rechts-konservativen Identitäten möglich.
Vorgehensweise und Resultate
Der Untersuchungsgegenstand ist ein halb-akademischer (von Akademiker:innen für die regierende Klasse geschriebener) Diskurs, dessen rhetorische Figuren, ausgedrückten Affekte, und visuelle Einbettung mich eindeutig mehr interessiert als die vorgebrachten Argumente und Überlegungen.
Recherche für die Erstellung des Material-Archivs: In einem ersten Schritt werde ich Erstausgaben mit originalem Umschlagblatt der entsprechenden Literatur (aus dem ganzen „Westen“, selbstverständlich einschliesslich der Schweiz) anschaffen. In der Projekteingabe finden sich mehrere Bilder davon. Die materielle Verfügbarkeit der historischen Buch-Objekte, in welchem dieser Diskurs transportiert wurde, ist eine Grundbedingung für meine Recherche.
Recherche am Material-Archiv: In einem zweiten Schritt geht es um das Aufspüren der rhetorischen Formen im Text, deren Analyse, wie auch der Analyse der visuellen Metaphern der Umschlagsgestaltung. Biographischen Autoren-Informationen und Informationen zur Verbreitung und Rezeption der Werke werde ich ebenfalls nachgehen.
Dies hilft mir dabei, den performten Identitäten in Text und Ästhetik nachzugehen. Wie erwähnt denke ich, dass diese Performanzen einen Teil zur Identitätsbildung der regierenden Schicht in den westlichen Demokratien beitragen.
Recherche für ein performatives mediales Format: Schliesslich folgt ein experimenteller Schritt. Aufbauend auf der Selektion von Büchern, Umschlägen, Textpassagen und Ähnlichem möchte ich nach einem medialen Format suchen, meinen Untersuchungsgegenstand öffentlich zu verhandeln. Denn ich möchte nicht einen analytisch-akademischen Beitrag zur Kulturanalyse verfassen, sondern involviertere Formen des Umgangs finden, die mit Ambivalenz und einem gewissen Humor die gefundenen Metaphern und Performanzen vermitteln. Im Moment erscheint mir ein filmisches Format (eine Video-Serie) mit mir selber als Protagonist am vielversprechendsten. (In der Projekteingabe findet sich ein Videolink auf die Richtung, die etwa eingeschlagen werden könnte.) Aber es kommen auch Foto-Text Kombinationen, Lecture-Performances oder andere gescriptete Aufführungsformate für eine oder mehrere Personen in Frage.
Als Teil der Recherche soll ein Aufführungsformat entwickelt werden. Dessen Umsetzung geschieht dann allerdings erst nach Beendigung des Rechercheprojekts.
Bezug zur Schweiz
Da die bürgerliche Schweiz dieser Zeit vollwertig an der westlichen Hegemonie teilnimmt, ist es auf jeden Fall auch interessant, ihre Buchproduktion und ihre Verhandlung von Demokratie und Elitarismus zu untersuchen. Demokratie ist einer der wichtigsten politischen Begriffe in der Schweiz heute wie auch zwischen 1930-1960.
Zielpublikum
Die Recherche an sich (noch ohne Aufführungsformat), könnte gesellschaftskritisch / theoretisch interessierte Künstler:innen und Kulturschaffende, im Bereich des Artistic Research Tätige und politisch engagierte Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen interessieren.
Mit dem Aufführungsformat, das nach der Recherche entstehen wird, aber dessen Form während der Recherche ausgearbeitet werden soll, beabsichtige ich hingegen, mich an einer breiteren Diskussion über Demokratie zu beteiligen. Im Hinterkopf behalte ich die Idee, dass Machtverhandlungen, wovon die Arbeit ein Teil sein soll, mit der kulturell, wirtschaftlichen und politisch dominanten politischen Mitte geführt werden müssten. Deshalb möchte ich mit möglichen Aufführungsorten ausserhalb des eigentlichen Kunstbereichs in Kontakt treten, die gesellschaftliche Themen breit angehen (z.B. Stapferhaus ins Lenzburg, Museum für Kommunikation in Bern, Kantons-Bibliotheken u.ä.). Weitere Überlegungen zur Nutzung öffentlicher Kanäle sollen angestellt werden.
Dieses Recherche-Projekt sieht einen häufigen Austausch mit Expertinnen und Personen, mit welchem ich seit einigen Jahren in ständiger Diskussion stehe, vor, u.a. Saman Anabel Sarabi, Bildungstheoretikerin an der Universität Bremen.
Ich starte mit der Recherche im September 2022. Das Projekt wird von einem Produktionsbeitrag für Recherche von ProHelvetia unterstützt. Alle Hinweise, Gedanken und jegliche Form des Austausches darüber sind herzlich willkommen.